Musiktheater
Zwanzig Jahre hat er seine Familie nicht gesehen, als der französische Soziologe Didier Eribon anlässlich des Todes seines Vaters zum ersten Mal wieder nach Reims reist. Das ist der Ausgangspunkt einer schonungslosen autobiographischen Recherche: Über sexuelle und soziale Scham, über das Arbeitermilieu, aus dem er kommt, und vor dem er als junger Homosexueller flieht. Über das akademische Umfeld, an das er sich in Sprache und Gestus anpasst und vor dem er seine soziale Herkunft versteckt. Über die eigene Familie, die früher mit Stolz links, jetzt aber resigniert Front National wählt. Eine Recherche, die nach den Ursachen des Aufstiegs des Rechtspopulismus fragt und dabei nicht mit Kritik an einer Linken spart, die sich von großen Teilen der Arbeiterschaft habituell wie politisch entfremdet habe. Michael Rettig inszeniert ›Rückkehr nach Reims‹ als polyphonen Dialog zwischen einem Schauspieler und vier Musikern.
› 3 Fragen an Michael Rettig
In Didier Eribons Bestseller ›Rückkehr nach Reims‹ geht es um die Flucht des Autors aus seiner Arbeiterfamilie ins akademische Großstadtmilieu. Um sich als homosexueller Intellektueller neu zu erfinden, musste er seine Herkunft leugnen. Er kehrt erst in seine Heimatstadt Reims zurück als sein Vater schon gestorben ist. Was hat dich persönlich an dieser Geschichte gereizt?
Eribon macht in seinem Roman deutlich, wie lange er brauchte, um zu begreifen, dass er seiner Familie nicht nur wegen seiner Homosexualität den Rücken kehrte, sondern auch aus sozialer Scham gegenüber seinem Milieu. Als ich das Buch las, fielen mir Erlebnisse als Kind, Schüler, Student ein, die ich zwar verdrängt hatte, aber wohl doch nicht vergessen. Erst durch Eribons Text wurde mir klar, dass dies oft subtilen Erlebnisse etwas mit sozialer Scham zu tun hatten. Man schiebt das ja gerne weg…
Ebenso unter die Haut können einem die Beschreibungen Eribons darüber gehen, was es bedeutete, die eigene homosexuelle Identität anzunehmen. Sich „ins Feuer“ von Vokabeln der Verachtung zu stellen. Wie tief sich das in die eigene Biographie eingräbt. „Ich bin ein Sohn der Schande“, schreibt er.
Als das Buch 2016 auf Deutsch erschien, traf es in Deutschland einen Nerv, weil es auch eine Antwort auf die Frage liefert, wie es sein kann, dass die französische Arbeiterklasse den Front National wählt. Inwiefern lässt sich Eribons Analyse für die Erklärung des Erstarkens der AfD seit 2015 in Deutschland übertragen?
Schwierige Frage, vermintes Gelände. Eribon sieht in der Wahl des FN durch Arbeiter eine Art „politischer Notwehr“. Ein Versuch „die eigene Würde“ zu wahren, die leider eben auch von der (sozialdemokratischen) Linken missachtet wurde. Man denke hierzulande nur Hartz 4, Niedriglöhne, Minirenten, Leiharbeit etc. Meiner Ansicht nach kann man das Phänomen Rechtsradikalismus zwar nicht auf soziale Fragen reduzieren: Homophobie, Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Nationalismus haben vielfältige Ursachen. Ich denke aber schon, dass die sozialen Problemlagen eine der entscheidenden Ursachen sind. Und hier muss sich dann die gesamte Linke die Frage stellen, was sie falsch gemacht hat: Ignoranz, Belehrung, hohes Ross? Desinteresse? Klasse, Gewerkschaften, Klassenkampf – irgendetwas für Trachtenclubs oder alte weiße Männer? Und: Gibt es nicht so etwas wie heimliche bis offene Verachtung? Zu uncool, zu doof, zu proll?
Das Buch ist kein Theatertext und auch kein rein wissenschaftlicher Text, sondern eine von soziologischen Reflexionen durchzogene Autobiografie. Wie hast du ihn für das Theater adaptiert? Was können wir auf der Bühne erwarten: eine szenische Lesung?
Ich lege den Schwerpunkt auf den biographischen und auf den politischen Eribon. Den wissenschaftlichen Eribon habe ich mehr oder weniger rausgenommen. Der Text wird gesprochen, geflüstert, geschrien. Er wird von Geige, Cello, Klavier und Elektronik kommentiert, unterbrochen, widersprochen. Es wird außerdem Videoeinspielungen und Kommentare der Akteure auf der Bühne geben, die den, das kann man nicht anders sagen, streckenweise geradezu prophetischen Text von 2009 aktualisieren.
SCHAUSPIEL Ralf Knapp
REGIE, KLAVIER Michael Rettig
CELLO Clovis Michon
GEIGE Jin Kim
ELEKTRONIK Riccardo Castagnola
In Kooperation mit dem Institut Français, der Arbeitnehmerkammer Bremen und der Rosa Luxemburg Stiftung.
Nach dem gleichnamigen Roman von Didier Eribon, aus dem Französischen von Tobias Haberkorn, erschienen im Suhrkamp Verlag. In einer Bühnenfassung von Michael Rettig.